PS09: Grabung, Luftkurort, Titan (der)

Diese Geschichte ist parallel veröffentlicht auf dem Projekt-Blog.

Sie hatte die Augen noch geschlossen. In ihrem Kopf pochte es, doch etwas Nass-Kühles lag auf ihrer Stirn und machte es erträglich. Der restliche Körper lag unter einer Decke. Alles schwankte und schaukelte leicht, wie auf See. Wo?, dachte sie sich. Benommen schaute sie sich den Ort an, an dem sie unerwartet erwacht war. Sie ahnte ein rustikales Haus, das komplett aus Holz gebaut war, das nur aus diesem einen Raum bestand und aus dessen Fenstern man viel Himmel sah. Sie zuckte überrascht zusammen, als sie am Fenster einen jungen Mann bemerkte.

„Ah, du bist wach! Wie fühlst du dich?“ Er kam ans Bett und ließ sich neben ihr auf den Holzplanken nieder. Sie antwortete: „Geht so“ Vorsichtig tastete sie nach ihrer Stirn und nahm den nassen Lappen herunter. Er nahm ihn ihr ab. „Soll ich ihn dir noch mal anfeuchten?“ Sie beachtete seine Frage nicht und stemmte sich stattdessen mit den Armen im Bett hoch, sodass sie an der Wand lehnen konnte. Im nächsten Moment pochte ihr wieder der Schädel und sie stützte den Kopf in die Hand. Ein geseufztes „Ouw“ entwich ihr.

Der Mann schien eher amüsiert als besorgt. „Schon dich lieber, kleine Tomate.“ „Tomate?“ „Haja, zugegeben, jetzt ist es nicht mehr ganz so schlimm. Aber als wir dich gefunden haben, war dein Kopf knallrot. Lagst bewusstlos mitten in einer Grube, der prallen Sonne ausgesetzt. Sonnenstich, vermute ich mal. Was hast du da getrieben?“ „Getrieben? Ich … ouw …“ Sie fasste sich wieder an die Schläfe. „Kann ich vielleicht doch noch mal den Lappen haben? – Danke. – Dort war meine archäologische Grabung. Ich hab mich wohl im Eifer des Gefechts verloren, als ich Ansätze mehrerer Knochen entdeckt habe.“ „Eine Archäologin? Aha“, mehr sagte er dazu nicht. Schon klar, klingt unglaublich spannend für dich.

Nach kurzem Überlegen fragte sie: „Ich war also weggetreten und du hast mich gefunden?“ „Ich und mein steter Reisebegleiter Asot.“ „Vielen Dank für die Pflege. Wie heißt du?“ „Joshua.“ „Vielen Dank dafür, Joshua. Und deinem Freund möchte ich auch noch danken.“ „Schon gut. Ich stelle ihn dir später vor. Ruh dich erst noch etwas aus.“ Er stand auf und nahm wieder seinen Platz am Fenster ein. Wie beiläufig fragte er: „Wie heißt eigentlich unsere Patienten?“ „Marina“, flüsterte sie noch. Dann kroch sie wieder unter die Bettdecke und schlief

bis in die frühen Stunden des nächsten Morgens. Sie stand auf und genoss die sommerliche Kühle, die vor dem Sonnenaufgang in der Luft hing. Es hat aufgehört zu schwanken. Joshua befand sich nicht im Raum. Sie ging an das Fenster, wo er gestern gestanden hatte. Was für eine Aussicht. Diese Hütte muss irgendwo auf einem Berg stehen. Frische Brisen wehten herein und ihr salziger Duft erinnerte sie an den Luftkurort an der See, den sie damals – in einem Alter von nicht mehr als 17 Jahren – mit ihrer Mutter besucht hatte.

Dielen knarzten und Joshua begrüßte sie mit „Wieder fit?“ Gut gelaunt antwortete sie: „Springlebendig! Sag mal, wo befinden wir uns eigentlich? Nahe der See?“ Er stand in der Tür und deutete ihr mitzukommen. „Ich stell dir Asot vor. Und ja, wir sind nahe der See.“

Sobald sie das Haus verlassen hatte, stand sie auf steinigem Untergrund. Nur einige Meter entfernt zur Tür befand sich ein mehrere Mann hoher Geröllklotz. Joshua stand dicht davor und klopfte daran. „Hey, Kumpel!“ Im nächsten Moment geriet der Klotz in Bewegung und drehte sich in ihre Richtung. Er nahm wieder etwas Abstand und zeigte mit flacher Hand auf das steinige Gesicht hinter ihm. „Das ist Asot. Asot, das ist Marina.“ Marina sagte Nichts, schrie aber in sich hinein. Ein … ein Titan! Dann stehe ich gerade auf seiner Schulter und das Haus … das Haus … „Ich lebe wie ein Parasit auf Asots Schulter“, kam Joshua ihren Gedanken zuvor. „Nur ohne Schaden für den Wirt. Stimmt’s Asot?“ Marina betrachtete den Kopf eingehender. Die Steine bildeten so etwas wie ein Gesicht, das sich minimal verändern konnte. Gerade zeigte es ein angedeutetes Lächeln. Weißes Licht drang aus seinen leeren Augenhöhlen und vermischte sich mit den ersten Sonnenstrahlen. Für einen Augenblick sah Marina die Illusion eines menschlichen Wesens.

Sie schritt vorsichtig näher an den Abhang und ihr Blick glitt viele hundert Meter über riesige Steinplatten, Moos und selbst vereinzelte Bäume, die zwischen den Spalten heranwuchsen, hinunter zum Boden. „Asot, hm?“, murmelte sie. Joshua kam näher zu ihr. „In der nächsten Stadt, die wir erreichen, werden wir dich absetzen. Wenn du Geld für die Rückreise benötigst, leihe ich dir welches.“ Marina hörte ihm gar nicht zu. Sie war zu sehr in Gedanken. Der Kerl reist in einem Haus, das auf der Schulter eines Titanen gebaut wurde, durch die Weltgeschichte. Ein steinerner Titan, verdammt! Ob es noch mehr solcher Wesen gibt? Ihr Blick klärte sich wieder und sie sprach ohne zweiten Gedanken: „Lasst mich mit euch reisen!“