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über Nacht

Erst geht er auf die Brücke zu, dann bleibt er wieder stehen. Überlegt, lauscht der Musik seines MP3-Spielers, dreht sich und geht zurück. Bleibt wieder stehen und schaut über die Schulter in den Gang zwischen den nächtlich-schwarzen Baumwölbungen.

„Es ist egal, eigentlich egal. Nur ich selbst kann mich einen Feigling schimpfen und es mir vorhalten.“

Er geht doch darauf zu und die Bäume schlucken viel an Licht um ihn herum. Nur hinter den Wolken thront der Mond. In der Mitte des Weges hält er sich, fürchtet sich. Ein kleiner Funke tänzelt vorbei und erlischt im Flug.

„Glühwürmchen, wenn auch nur eines, sind kein schlechtes Omen.“

Nicht mehr ganz so gruselig scheint der Weg fortan. Schließlich steht er auf der Brücke, unter ihm fahren die Autos vorbei. Einige Fotos entstehen, er experimentiert mit der Kamera. Das blinkende Licht des Selbstauslösers hält er mit dem Finger zu, damit sich die Autofahrer nicht erschrecken.
Später in der Nacht geht er zurück. Der Brückenweg hat an Furcht verloren. Der Scheinwerfer eines weit hinten an der Ampel stehenden Fahrzeuges blendet und wirft langgezogene, menschliche Silhouetten auf den Boden.

Er verlässt das Feld, kehrt Heim. Vor dem Eingang zum im Dunkeln liegenden Haus kramt er seinen Schlüssel aus dem Rucksack. Innen legt er alles ab, zieht die Schuhe und Jacke aus. In der Küche isst er vom Käse – Mitternachtsimbiss. Sein Handy klingelt, das Haustelefon liegt wie immer oben im Elternschlafzimmer. Er nimmt sein Handy, drückt auf annehmen.

„Komm so langsam mal nach Hause, es ist schon spät.“
Es ist seine Mutter. Er lächelt.
„Ich bin gerade zur Tür hereingekommen und stehe unten im Flur.“
„Rede doch keinen Blödsinn. Ich bin gerade hier im Flur. Wo steckst du?“
„Ich komme einfach mal hoch“, sagt er und legt auf.

Die Treppe hoch, nirgends ist Licht an. Die leicht aufgeschobene Schlafzimmertür der Eltern zeigt nur Dunkelheit, leere Betten. Das Telefon liegt wie gewohnt auf dem Boden bei der Tür, das Display dunkel.
Er geht in sein Zimmer. Der bläuliche Schein des Akkuladegerätes flutet den Boden. Die Bettdecke verkrumpelt, als er sich setzt, die Ellbogen auf die Kniee stützt, den Kopf in den Händen festklammert.
„Was ist hier los?“

Zwei Stunden später wieder sein Handy. Seine Kniee zum Körper gezogen hockt er auf dem Boden, den Rücken an der Wand, starrt ins Leere. Er kann die Gedanken nicht auf weitere Schritte, nicht auf vergangene Geschehnisse richten. Lediglich auf das Gegenwärtige kann er schauen.
Er geht ans Handy.

„Hallo?“
„Wo bleibst du? Wir machen uns schon langsam Sorgen.“
Vater.
„Tut mir Leid. Die Tage werde ich bei Freunden unterkommen. Ich komme vorerst nicht nach Hause. Aber macht euch bitte keine Sorgen.“
Nach kurzem Schweigen: „Es hat nichts mit euch zu tun.“

Dann legt er ohne abzuwarten auf.
Sein Vater hätte ihn sonst Schluchzen gehört.

Er schaltet das Handy aus. Er hockt in seinem Zimmer. Gelbliches Licht fällt von dort in den Flur. Das Elternschlafzimmer verschwimmt im grauen Dunkel. Unten im Wohnzimmer ist kein Licht, sammelt sich Staub. Draußen auf der Straße herrscht Stille, tänzeln Motten im Licht der Straßenlaternen.